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Thema: Zielgruppen
Autorin: Sabine Stoll
#gesellschaft #digitalisierung #soziologie #klassen #schichten #zielgruppe
Die Leute, die Menschen, die Gesellschaft. In der Schweiz leben rund 8.5 Millionen Individuen. Im Marketing und anderen Bereichen entsteht dabei schnell das Bedürfnis, diese vielen Einzelpersonen in Gruppen zu unterteilen. Soziologe Andreas Reckwitz schlägt vor, die Gesellschaft in vier Klassen zu unterteilen.
Es ist nicht gerade der heilige Gral des Marketings, eine Zielgruppe zu definieren, sondern Routine und Standard. Umso besser, wenn ich das möglichst granular und feingliedrig hinbekomme. Auch abseits der Werbewelten – etwa in Politik, Geschichte oder Gesellschaftswissenschaften – wird gerne unterteilt. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten: fast schon traditionell ist die Unterteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Klassen, was viel mit Einkommen oder sozialem Stand zu tun hat.
Eine weitere schöne Möglichkeit sind Milieus, bei denen eine Unterscheidung nicht nur auf Basis von Alter oder Einkommen erfolgt, sondern auch von Einstellungen. Genau das machen die Sinusmilieus, die vom deutschen SINUS-Institut herausgegeben werden. Das Institut ist hier sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat spezielle digitale Sinusmilieus entwickelt, die Auskunft über die digitale Reife und Affinität der Gesellschaft geben.
Klassen und Schichten – Gut gegen Böse?
Karl Marx unterteilte die Gesellschaft in Menschen, die Besitz haben und solche, die keinen haben. Letztere müssen ihre Arbeitskraft an die mit dem Besitz verkaufen. Eine solche Unterteilung der Gesellschaft in zwei Teile ist denkbar einfach und erinnert gleichzeitig an das Gut-Böse-Schema. Von den weitaus differenzierten Sinusmilieus war Marx weit entfernt – und eine möglichst granulare Unterscheidung gehörte vermutlich auch nicht zu seiner politischen Agenda und damit zu seinen Zielen. Dennoch ist der Grundgedanke, also die Menschen in verschiedene Schichten zu unterteilen aufgrund ihres ökonomischen Status, ein wichtiger.
Begreifen wir, wie wir die Gesellschaft ganz grundsätzlich unterteilen können, ist damit ein ganz basales Verständnis dafür vorhanden, um was es eigentlich geht. Wen kann ich ökonomisch überhaupt ansprechen mit meinen Angebot? Wer kann sich meine Produkte leisten? Welche Einstellungen, Bedürfnisse und Wünsche hat welche Klasse?
Drei plus eine Gesellschaften
Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz (ich hatte übrigens vor einiger Zeit mal einen Blogartikel über sein spannendes Buch «Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne» geschrieben) unterteilt die Gesellschaft in drei plus eine Schichten: eine Oberschicht, zwei Mittelschichten und eine Unterschicht. Disclaimer an dieser Stelle: er bezieht sich damit explizit auf westliche Gesellschaften und Nationen. Die Gesellschaft mit ihren Schichten ist dabei in Aufbruchstimmung, die Klassen sind dabei, sich zu verschieben und sich zu ändern. Reckwitz spricht dabei von einer «Rekonfiguration» der uns so bekannten wie vertrauten Mittelstandsgesellschaft. Diese neue Form nennt er eben die Drei-plus-eins-Gesellschaft.
Wie kommt der Mann nun auf «drei plus eins»? Die Gesellschaft ist, ganz grob gesagt, in drei Schichten geteilt. Die ökonomisch-soziale Dynamik innerhalb der Gesellschaft passiert innerhalb dieser drei Klassen und betrifft vor allem den ökonomischen Auf- wie auch Abstieg. Im Zentrum steht die neue Mittelklasse, die ergänzt wird durch eine neue Unterschicht oder prekäre Klasse. In der Mitte besteht nach wie vor die traditionelle Mittelklasse, wie sie bereits in den 50er bis 70er Jahren bestanden hatte, nun aber deutlich geschrumpft ist. On top als «plus eins» kommt die Oberklasse hinzu, die aus alten wie auch neuen Eliten besteht.
Ich habe, was du nicht hast
Zwischen den Klassen herrscht eine lebendige Dynamik, die Auf- und Abstiege kombiniert. Das heisst: die Menschen steigen nicht nur aus den unteren Schichten nach oben, was dem Bild einer Rolltreppe entsprechen würde – sondern steigen auch nach unten ab. Übrigens: Reckwitz bezieht sich in seiner Klassenbeschreibung nicht nur auf ökonomische Faktoren, sondern (angelehnt an Pierre Bourdieu) sieht drei Dimensionen: kulturell, ressourcenförmig und politisch.
Jede Klasse teilt sich ein mit einer besonderen Lebensführung, Maximen, Alltagsvorstellungen, Werten und Praktiken. Es ist also eine kulturelle Lebensform und damit gar nicht so weit von den Milieus entfernt. Konsum, Familie, Partnerschaft – alle diese Aspekte fallen also in das Selbstverständnis einer Klasse.
Die ökonomischen Bedingungen jeder Klasse stehen dabei in enger Wechselwirkung mit den kulturellen Aspekten und ermöglichen bzw. behindern diese. Einkommen und Vermögen sichern die Lebensführung jeder Schicht ab. Dazu kommt kulturelles und soziales Kapital wie z. B. die richtigen Beziehungen. Die drei plus eine Klassen stehen in Konkurrenz zueinander und unterschieden sich in Status, Prestige, Befriedigungsmöglichkeiten und Einfluss voneinander. Dahinter steckt ein Machtkampf, in dem kulturelle Hegemonie verhandelt wird.
Zwischen sozialem Abstieg und kultureller Aufwertung
Die drei plus eins Klassen sind durch eine lebhafte Dynamik miteinander verbunden und keineswegs gegeneinander abgeschlossen. Eine wichtige Verbindung ist dabei der Auf- und Abstieg. Damit gemeint ist die Veränderung der mir zur Verfügung stehenden Ressourcen, d. h. Einkommen, Vermögen und Bildung. Bei einem Abstieg habe ich weniger Ressourcen, bei einem Aufstieg entsprechend mehr.
Daneben gibt es noch die Auf- und Abwertung, die darüber bestimmt, welche soziale Wertigkeit eine soziale Gruppe innerhalb der Gesellschaft hat. Das kann eine ganze Klasse umfassen oder kleinere Einheiten. Ob meine soziale Gruppe eine hohe Valorisierung besitzt, bestimmt wiederum deren kulturellen Einfluss auf den Rest der Gesellschaft. Auch hier geht es schlussendlich wieder um Macht. Gerade die Unterscheidung zwischen Mittel- und Unterklasse sowie zwischen neuer und alter Mittelklasse ist nicht in erster Linie ein ökonomischer Unterschied, sondern vor allem auch ein kultureller.
Die Treiber der Klassendynamik, also von Aufstieg, Abstieg, Aufwertung und Abwertung sind die drei Faktoren Postindustrialisierung, Bildungsexpansion und Wertewandel. Die alte Mittelklasse wird durch den Aufstieg der neuen Mittelklasse bedroht und kulturell entwertet.
Die neue Mittelschicht
Abgesehen von der Oberschicht ist die neue Mittelschicht die kulturell, wirtschaftlich und politisch einflussreichste Gruppe. Hier zeigt sich auch gleich der Vorteil des neuen Vier-Klassen-Modells: statt zu konstatieren, dass die Mittelschicht immer kleiner wird und an Bedeutung verliert, können wir uns damit auf die Eigenschaften dieser neuen Mittelklasse konzentrieren. Diese ist die Klasse der Hochqualifizierten, d. h. darin sind in erster Linie Menschen, die einen Hochschulabschluss haben und einen White Collar Job ausführen.
Die Einkommen der Mitglieder dieser Gruppe sind recht unterschiedlich, entsprechend lässt sich die neue Mittelschicht auch besser über ihr kulturelles Kapital definieren als nur über Besitz und Einkommen. Denn die neue Mittelschicht pflegt ihre eigenen Gewohnheiten, die über den Erziehungsstil über Freizeitaktivitäten bis hin zu politischer Einstellung gehen. Diese Klasse zieht urbane Wohnorte vor und ist häufig in und um Metropolen anzutreffen. Insgesamt ist diese Gruppe auch sehr mobil, was einerseits Berufswege betrifft, aber auch die Bereitschaft, den Wohnort zu wechseln.
Die Menschen möchten sich erfolgreich selbst entfalten, d. h. ihre individuellen Talente und Wünsche ausleben und fördern und ein zufriedenes, sinnhaftes und reichhaltiges Leben zu führen. Zugleich sind die Mitglieder dieser Gruppe bemüht, ein Leben zu führen, das mit möglichst hohem sozialen Status verbunden ist, der wiederum mit hoher gesellschaftlicher Anerkennung verbunden ist.
Dabei, das ist zumindest die These von Andreas Reckwitz, verbinden sich die Vorstellungen des Bürgertums nach Leistung mit den Ideen der Romantik nach einem erfüllten und selbstverwirklichten Leben. Es geht also nicht nur darum, im Leben ein bestimmtes ökonomisches Ziel zu erreichen, sondern dieses soll auch eine hohe Qualität haben.
Die neue Mittelschicht ist sozusagen das «Neobürgertum» und direkte Nachbarin der alten Mittelklasse. Zentrale Vehikel der Selbstentfaltung durch Leistung sind dabei Bildung und Erziehung. Die Mitglieder sind Kosmopoliten und Verfechter*innen des Fortschritts.
Die traditionelle Mittelschicht
Sie geht aus der bisherigen postindustriellen Mittelklasse hervor und ist deren Erbin, hat jedoch im Laufe der Zeit und mit dem Erstarken der neuen Mittelklasse ihre kulturelle Dominanz deutlich eingebüsst. Andreas Reckwitz spricht dabei sogar von einem kulturellen Entwertungsprozess. Die Mitglieder dieser Gruppe sind in mittleren beruflichen Positionen mit mittleren Bildungsabschlüssen.
Die traditionelle Mittelklasse konzentriert sich räumlich eher auf kleinere und mittelgrosse Städte sowie ländliche Regionen und ist seltener in urbanen Zusammenhängen anzutreffen. Die Mitglieder fühlen sich ihrer Herkunftsregion stark zugehörig, sind dort stark verwurzelt und auch deutlich weniger bereit, in den Wohnort zu wechseln. Den Menschen dieser Klasse geht es aber nicht nur um ihren ökonomischen Status, sondern sie sind kulturell eingebettet durch Werte wie Selbstdisziplin, Ordnung, Verwurzelung und der Erhalt des materiellen Status. Das Individuum verlangt von sich – aber auch allen anderen – geordnete Verhältnisse und Disziplin. Dies betrifft praktisch alle Lebensbereiche wie Arbeit, Erziehung oder Ausbildung. Arbeit, Familie und Region stehen im Mittelpunkt für diese Klasse. Die politische Einstellung kann von konservativ bis sozialdemokratisch reichen. Zentral geht es um die Erhaltung des Bestehenden – Entwicklungen wie Kosmopolitismus und Globalisierung werden eher kritisch betrachtet.
Materiell kann die traditionelle Mittelklasse ihr bestehendes Niveau halten – dies trifft kulturell allerdings nicht zu. Diese Gruppe ist in dieser Hinsicht eher in der Defensive; ihre Lebensprinzipien haben die einstige gesellschaftliche Dominanz verloren. Die angesprochene kulturelle Entwertung passiert mit dem Niedergang der Räume, in denen die Gruppe lebt und die ökonomisch wie auch kulturell immer mehr an Bedeutung verlieren gegenüber grossen urbanen Zentren und Metropolregionen. Die «Provinz» wird räumlich abgehängt, was automatisch auch deren Bewohner*innen betrifft.
Auch die Anerkennung und Wirksamkeit von Bildung und Beruf geht zurück in einem sozialen Kontext, in dem der Hochschulabschluss Bedingung für ein «Mittelklasseleben» darstellt. Mittlere Bildungsabschlüsse haben nicht nur an Prestige verloren, sondern sind zunehmend auch mit einem vergleichsweise geringeren Einkommen verbunden. Auch das traditionelle Familienmodell (Hausfrauenehe) verliert zunehmend an gesellschaftlicher Bedeutung, ebenso wie die Kernwerte dieser Klasse. Gesellschaftlicher Wandel wird eher als Bedrohung denn als Chance wahrgenommen.
Die prekäre Klasse
Diese Gruppe fällt aus der Gesellschaft heraus und bildet damit eine Unterschicht. Ein Teil der prekären Klasse befindet sich nicht im Arbeitsmarkt, ein anderer Teil wird gerne auch als «Dienstleistungsproletariat» bezeichnet und deckt damit den steigenden Bedarf an Dienstleistungen ab, die jedoch mit niedrigem Einkommen verbunden sind. Besitz und Einkommen sind hier deutlich unter dem Durchschnitt, was sich auch im Bildungsgrad zeigt. Die prekäre Klasse hat besonders viele sog. Niedrigqualifizierte als Mitglieder, die unter dem Strukturwandel der Gesellschaft leiden und insbesondere von der Bildungsexpansion negativ betroffen sind. Menschen, die nicht Teil der Bildungsexpansion sind, werden zu sog. «Bildungsverlierer*innen».
Auch die Mitglieder dieser Klasse haben ihre eigene charakteristische Lebensführung. Andreas Reckwitz spricht hier vom «muddling through», d. h. man schlägt sich irgendwie durch. Zenral ist der Umgang mit immer neuen Schwierigkeiten, die im Leben auftauchen, verbunden mit alltäglichen Problemen und Widrigkeiten, die allerdings für die Individuen leicht auch in existenzielle Probleme münden können. Entsprechend ist der Zeithorizont der Lebensführung und -planung eher kurzfristig, da längere Planung aufgrund der Unwägbarkeiten des Lebens so gut wie unmöglich sind. Andreas Reckwitz spricht hier vom «geschickten Durchhalten und Weitermachen» in einem Leben, das Kampf ist und indem das Motiv des Durchhaltens bereits eine wichtige Leistung darstellt.
Die prekäre Klasse ist die Erbin der vormaligen Arbeiterschicht, allerdings hat diese bereits einen Prozess des sozialen Abstiegs und der kulturellen Entwertung hinter sich. Der damalige (informelle) Deal der alten Arbeiterklasse gilt nicht mehr: harte und vielleicht nicht immer befriedigende Arbeit mündet nicht mehr zwangsläufig in ein gutes Einkommen und einen höheren Status. Eben in diesen Bereichen sind die Mitglieder dieser Klasse abgehängt. Kulturelle Eigenschaften der prekären Klasse, wie etwa der Umgang mit dem eigenen Körper oder die Ernährungsweise, werden von der tonangebenden neuen Mittelschicht abgewertet und als defizitär eingestuft.
Ist die Einteilung zu grob?
Wem das 3+1 Modell zu grob und ungenau ist, kann gesagt werden: andere gesellschaftliche Modelle, wie etwa das der Sinusmilieus, lässt sich dabei problemlos integrieren und stellt dann einfach eine der vorhandenen Achsen da, auf denen sich die Milieus entfalten.
Nachlesen Du interessierst dich für das Thema Zielgruppen? In zwei Artikeln bin ich bereits dem Thema Sinusmilieus nachgegangen. Zudem lohnt sich ein Blick auf die Website des Sinus-Instituts, das die Sinusmilieus regelmässig validiert und aktualisiert. Alles über Sinusmilieus >> Digitale Sinusmilieus >> Website des Sinus-Instituts >> |
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